Muskulatur

Die Muskulatur wird immer wichtiger

Nathan Shock wird gerne als der Vater der modernen Gerontologie (auch Alters- oder Alternswissenschaft) bezeichnet. Seinem Namen gerecht werdend, schockierte er in den Siebzigern die wissenschaftliche Gemeinschaft mit den Inhalten einer über 20 Jahre dauernden Studie (1). Shock konnte mittels Messungen aufzeigen, dass die physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers mit dem Alter stetig abnehmen: Hörfunktion, Grundumsatz (auch Ruheenergiebedarf: Anteil am täglichen Energiebedarf eines Organismus), Herzindex (Parameter zur Beurteilung der Herzleistung), Nieren- und Lungenfunktion, u.v.m. Man müsste meinen, dass diese schockierenden Erkenntnisse in der Bevölkerung für großes Aufsehen gesorgt haben. Dem war erstaunlicherweise aber nicht so. Dies bewog Prof. Dr. Irwin H. Rosenberg im Jahre 1988 (2) dazu, dem Kinde einen Namen zu geben in der Hoffnung, dass diesem Phänomen fortan eine viel größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Anlässlich einer Konferenz in Albuquerque, New Mexico, verwendete Rosenberg zum ersten Mal den Begriff Sarkopenie stellvertretend für den altersbedingten Rückgang der Muskelmasse. Sarkopenie ist eine Wortbildung aus dem Griechischen – sarx steht für „Fleisch“ und penia für „Mangel“.

Rosenberg fasste zudem zusammen: Tatsächlich gibt es möglicherweise kein Merkmal des altersbedingten Rückgangs, das auffälliger ist als der Rückgang der Magermasse bei der Beeinflussung von Gehfähigkeit, Mobilität, Energieaufnahme, Nährstoffaufnahme und -status insgesamt sowie von Unabhängigkeit und Atmung. Heute wird Sarkopenie primär durch tiefe Niveaus von drei Faktoren bestimmt: (1) Muskelkraft, (2) Muskelmasse und (3) körperliche Leistungsfähigkeit als Indikator für den Schweregrad (3).

Muskeln schwinden

Heute leiden 50 Millionen Menschen weltweit unter starkem, altersbedingtem Muskelschwund – der sogenannten Sarkopenie. Laut der Europäischen Arbeitsgruppe für Sarkopenie könnte diese Zahl bei älteren Menschen in den nächsten 40 Jahren auf mehr als 200 Millionen Betroffene weltweit steigen.

Tatsächlich ist die schwindende Muskulatur Auslöser und Wegbegleiter vieler Probleme. Es sind dies im Besonderen: chronische Rückenschmerzen, chronische Nackenbeschwerden, Osteoporose (Knochenschwund), Beckenbodenschwäche, Altersschwäche, Fehlhaltungen, zu hoher Anteil an Körperfett, Diabetes Typ II, Bandscheibenvorfälle, Arthrose, schlaffe äußere Erscheinung und viele andere Syndrome.

Aufgrund der verbesserten Gesundheitsversorgung, Ernährung und Infrastruktur in entwickelten Ländern steigt die Lebenserwartung um etwa zwei Jahre pro Lebensjahrzehnt. Dementsprechend wird bis 2050 ein Viertel der Bevölkerung Europas über 65 Jahre alt sein. Diese Verlängerung des Lebens bringt es mit sich, dass der altersbedingte Abbau der Muskulatur (Sarkopenie) einen noch bedeutenderen Einfluss auf die persönliche Gesundheit, die der Mitmenschen, aber auch der Gesellschaft und insbesondere auf deren soziale Strukturen hat.

Feiert heute jemand seinen 60. Geburtstag, darf er sich mit dem Gedanken vertraut machen, noch mindestens zwei weitere Jahrzehnte das Leben genießen zu können. Dieses Genießen aber ist körperlich stark an die Pflege der Muskulatur gekoppelt. Im gesunden Körper macht die Skelettmuskelmasse etwa 40 Prozent der Gesamtkörpermasse aus (4). Während des Alterns reduziert sich diese Skelettmuskelmasse bis zum 80. Lebensjahr bis zu einem Drittel (4), falls wir nichts dagegen tun. Körperliche Inaktivität und schlechte Ernährung verstärken diesen Effekt zusätzlich.

Muskeln dienen der Gesundheit

Noch heute ist es so, dass die Bedeutung der Muskulatur für unsere persönliche Gesundheit bis ins hohe Alter komplett unterschätzt wird. Oft wird der Muskel als ein Gebilde gesehen, das sich über als Sehnen bezeichnete Schnüre am Knochen befindet. Muskeln sind viel und tun viel mehr:

  • Sie verrichten Arbeit.
  • Sie verbrauchen Energie.
  • Sie halten uns aufrecht.
  • Sie setzen uns in Bewegung.
  • Sie schützen uns vor Verletzungen.
  • Sie reduzieren die Rehabilitationszeit nach Verletzungen.
  • Sie verbrennen Fett.
  • Sie fördern unsere Figur.
  • Sie beugen Rückenschmerzen vor oder bekämpfen diese aktiv.
  • Sie bauen Knochen auf.
  • Sie fördern unsere Selbstsicherheit.
  • Sie kräftigen uns.
  • Sie wirken präventiv gegen Stoffwechselerkrankungen.

Mehr als nur ein Stützorgan

Die Muskulatur und das entsprechende Krafttraining genießen nach anfänglichen Vorbehalten eine immer größere Akzeptanz in der Bevölkerung. Als Stützorgan ist der Muskel eine der wichtigsten „Behandlungsformen“ für Rücken- und Gelenkbeschwerden. Mit seiner Stoffwechselfunktion bietet der Muskel jedoch einen weiteren Nutzen für die Behandlung eines anderen zivilisationsbedingten Massenphänomens: des Metabolischen Syndroms oder „Deadly Quartet“, wie es in den USA bezeichnet wird. Die Kombination von Bluthochdruck (Hypertonie), erhöhten Blutfetten (Hyperlipidämie), erhöhtem Blutzucker (Hyperglykämie) und erhöhter Insulinkonzentration (Hyperinsulinämie) sowie starkem Übergewicht mit meist bauchbetonter Fetteinlagerung ist unter dem Begriff Metabolisches Syndrom zusammengefasst. Muskeln verbrauchen bei ihrer Arbeit Zucker und Fett als Energiequelle. So ist Muskelarbeit stets mit einem erhöhten Energieverbrauch verbunden. Eine trainierte Muskulatur zeichnet sich folglich durch eine verbesserte Stoffwechselkapazität für Fett und Zucker aus und wirkt sich somit positiv auf den Metabolismus aus.

Rosenberg wusste es bereits 1997

Bereits 1997 hat der oben zitierte Irwin H. Rosenberg sich gefragt, ob das Sarkopenie-Syndrom beeinflusst werden könne. Er kam zu folgendem Schluss: „Eine Intervention, die besonders vielversprechend erscheint, ist das Krafttraining, das diesen Rückgang erheblich verändern und folglich wichtige Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben könnte.“


Quellen:

(1) Shock et al. (1984) Normal human aging: The Baltimore Longitudinal Study of Aging. Superintendent of Documents, U.S. Government.

(2) Rosenberg I (1988) Epidemiologic and methodologic problems in determining nutritional status of older persons. Proceedings of a conference. Albuquerque, New Mexico, October 19-21, 1988. Am J Clin Nutr 50:1121-1235.

(3) Cruz-Jentoft et al. (2018) Sarcopenia: revised European consensus on definition and diagnosis. Age and Ageing 0: 1-16.

(4) Janssen I, Heymsfield SB, Wang ZM, Ross R (2000) Skeletal muscle mass and distribution in 468 men and women aged 18-88 yr. J Appl Physiol 89:81-88.

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